NDR Elbphilharmonie Orchester
Video on Demand vom 6.3.2021
verfügbar bis 29.9.2032

Tempus Fugit

Das NDR Elbphilharmonie Orchester und Alan Gilbert bringen die Elbphilharmonie zum Klingen – mit aufregenden Werken der Moderne von Magnus Lindberg und Olga Neuwirth.

Am 19. Februar 2021 wäre die Biennale »Elbphilharmonie Visions« zum ersten Mal an den Start gegangen – ein Festival mit elektrisierender Musik der Gegenwart, präsentiert von erstklassigen deutschen Rundfunk-Orchestern. Coronabedingt wurde »Visions« ins Jahr 2023 verschoben; stattdessen präsentieren Festival-Initiator Alan Gilbert und das NDR Elbphilharmonie Orchester ein Konzert der etwas anderen Art: Als aufwendige Videoproduktion inszenieren sie Magnus Lindbergs Orchesterwerk »Tempus fugit«, in dem warme und dissonante Klänge, Tradition und Experiment ineinandergreifen. Im Anschluss erklingt das Trompetenkonzert »... miramondo multiplo ...« der Österreicherin Olga Neuwirth. Solist: der fantastische Trompeter Håkan Hardenberger.

Trailer

Besetzung

NDR Elbphilharmonie Orchester
Håkan Hardenberger Trompete
Dirigent Alan Gilbert

Programm

Magnus Lindberg (*1958)
Tempus fugit (2017)

Olga Neuwirth (*1968)
... miramondo multiplo ... (2006)

NDR Elbphilharmonie Orchester NDR Elbphilharmonie Orchester © Sophie Wolter
Backstage: NDR Elbphilharmonie Orchester Backstage: NDR Elbphilharmonie Orchester © Sophie Wolter
Backstage: Mallets der Schlagwerker Backstage: Mallets der Schlagwerker © Sophie Wolter
NDR Elbphilharmonie Orchester NDR Elbphilharmonie Orchester © Sophie Wolter
NDR-Chefdirigent Alan Gilbert und Trompeter Håkan Hardenberger im Gespräch NDR-Chefdirigent Alan Gilbert und Trompeter Håkan Hardenberger im Gespräch © Sophie Wolter
Harfenistin in der Elbphilharmonie Sky Lounge: NDR Elbphilharmonie Orchester Harfenistin in der Elbphilharmonie Sky Lounge: NDR Elbphilharmonie Orchester © Sophie Wolter
NDR Elbphilharmonie Orchester NDR Elbphilharmonie Orchester © Sophie Wolter
Alan Gilbert in der Künstlergarderobe Alan Gilbert in der Künstlergarderobe © Sophie Wolter
Streaming backstage Streaming backstage © Sophie Wolter
NDR Elbphilharmonie Orchester NDR Elbphilharmonie Orchester © Sophie Wolter
Streaming: Håkan Hardenberger / NDR Elbphilharmonie Orchester Streaming: Håkan Hardenberger / NDR Elbphilharmonie Orchester © Sophie Wolter
NDR Elbphilharmonie Orchester im Großen Saal NDR Elbphilharmonie Orchester im Großen Saal © Sophie Wolter
Alan Gilbert Alan Gilbert © Sophie Wolter
NDR Elbphilharmonie Orchester backstage NDR Elbphilharmonie Orchester backstage © Sophie Wolter
NDR Elbphilharmonie Orchester und Alan Gilbert im Großen Saal NDR Elbphilharmonie Orchester und Alan Gilbert im Großen Saal © Sophie Wolter

Raus aus der Nische :Zum Programm

In ihrer gemeinsamen Videoproduktion widmen sich Alan Gilbert und das NDR Elbphilharmonie Orchester ausschließlich Musik des 21. Jahrhunderts. »Ich bin der Überzeugung, dass wir nicht nur die Werke der alten Meister wertschätzen sollten, sondern immer auch das, was unsere Zeitgenossen erschaffen«, so Gilbert. »Das ist doch schließlich der Spiegel unserer Gegenwart. Wir können Teil davon sein, wenn Musikgeschichte weitergeschrieben wird!«

»Magnus Lindergs Musik ist intellektuell, hochemotional und zugleich sehr menschlich.«

Alan Gilbert

Fliehende Zeit :Magnus Lindbergs »Tempus fugit«

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie wird viel über unser aller Zeitempfinden gesprochen. Mal fühlt es sich an, als ob die Zeit aufgrund von Branchenschließungen und Kontaktbeschränkungen fast stillsteht. Dann wieder scheint es – gerade weil das Leben so wenig Abwechslung bietet –, als renne die Zeit nur so davon. Es ist eine Binsenweisheit, dass eine Stunde, ein Tag, eine Woche subjektiv kurz oder lang wirken kann. Aber ebenso fest steht: Die linear fortschreitende, reale Zeit lässt sich nicht anhalten. Und es ist genau diese wunderbare Erkenntnis über die Diskrepanz zwischen tatsächlicher und erlebter Dauer, die sich die Musik seit jeher zunutze macht.

»Wir erleben jeden musikalischen Moment als einen Zusammenschluss aus aktuellem Geschehen, Erinnerungen und Vorahnungen.«

»Tempus fugit« hat der finnische Komponist Magnus Lindberg sein 2017 uraufgeführtes Orchesterwerk genannt. »Die Zeit vergeht wie im Flug«, so könnte man den Titel frei übersetzen. Wie wahr dieser Ausspruch ist, weiß der Komponist genau; ist es doch sein Beruf, eine ganze musikalische Welt innerhalb einer klar begrenzten Aufführungsdauer (in diesem Fall rund 30 Minuten) zu entfalten.

Der Titel seines Stückes spielt aber nicht nur auf die Musik an sich als Zeitkunst par excellence an. Denn Lindberg interessierte auch ebenjene Dimension, die neben der physikalisch messbaren Zeit existiert und die uns jeden (musikalischen) Moment als einen Zusammenschluss aus aktuellem Geschehen, Erinnerungen und Vorahnungen erleben lässt – so wie es der Komponist Bernd Alois Zimmermann in seinem Bild von der »Kugelgestalt der Zeit« umschrieb. Konkret bedeutete dies für Lindberg, sich im Kompositionsprozess mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.

Magnus Lindberg
Magnus Lindberg © Hanya Chala

Nach dem Studium in Helsinki entwickelte sich Lindberg in den 1980er Jahren zunächst zu einem Aushängeschild der finnischen Avantgarde. Mit seinem von elektronischer Musik ebenso wie von der Berliner Punkrock-Szene inspirierten Werk »Kraft« sprengte er 1985 förmlich den klassischen Konzertsaal.

Seine mächtigen Klangentladungen organisierte er mit Hilfe eines Computerprogramms. Hätte nur noch gefehlt, »dass man mitten im Stück Bäume fällen muss«, wie Lindberg einmal den Extremfall der experimentellen Moderne beschrieb, von der er sich seit den 1990er Jahren dann allmählich distanzierte. Lindbergs Haltung wurde moderater, vor allem begann die Tradition eine zunehmende Rolle in seinen Werken zu spielen.

»Eine Tonsprache, die ständig zwischen wohlklingenden und sich reibenden Klängen changiert«

In »Tempus fugit« nun ließ Lindberg seine kompositorischen Phasen in einer »Kugelgestalt der Zeit« zusammentreffen: Die Harmonik fand er erneut unter Einbezug von Computern der 1980er Jahre, die ihm auf der Grundlage voreingestellter Parameter mögliche Akkordfortschreitungen ausspuckten. Heraus kam eine Tonsprache, die ständig zwischen wohlklingenden und dissonanten Klängen changiert und auffällig stark mal an den Giganten der französischen Moderne, Olivier Messiaen, mal an den finnischen Romantiker Jean Sibelius erinnert.

Magnus Lindberg probt mit dem Ersten Cellisten des NDR Elbphilharmonie Orchesters Andreas Grünkorn für sein Stück »Kraft«
Magnus Lindberg probt mit dem Ersten Cellisten des NDR Elbphilharmonie Orchesters Andreas Grünkorn für sein Stück »Kraft« © NDR Elbphilharmonie Orchester

So ist eines der wiederkehrenden Themen des fünfteiligen Werks ein ab- und aufsteigendes Tonleiter-Motiv, das sich auch in Sibelius’ Siebter Sinfonie finden könnte. Eine kurze Klavierpassage mit Streicherensemble beschwört im zweiten Teil gar Mozart oder Haydn herauf, wohingegen die gewaltige Schlusssteigerung des fünften Teils ganz bewusst an Mussorgskys »Großes Tor von Kyjiw« angelehnt ist. Was sich hinter diesem Tor befindet? – Am Ende von »Tempus fugit« steht ein offener, ahnungsvoll in die Zukunft weisender Klang. Die Zeit lässt sich eben nicht anhalten.

»Das Stück handelt vom Verrinnen der Zeit, von sich überlagernden Zeitebenen und vom Changieren zwischen bekanntem musikalischen Material und neuartigen Klängen. Diese Beschreibung könnte man auch auf die Architektur der Elbphilharmonie anwenden: die Verbindung von altem Material und neuartigen Formen, das Fließende in vielen Raumdetails, die Auflösung von eindeutigen Raum-Ebenen. Daraus entwickelte ich die Idee, Bilder der Elbphilharmonie in das Stück zu integrieren. Die Architektur wird dramaturgischer Bestandteil der Komposition.«

Der Regisseur Alexander Radulescu zu seiner filmischen Umsetzung von »Tempus fugit«

»Betrachten der Welt aus verschiedenen Blickwinkeln« :Olga Neuwirths Trompetenkonzert »… miramondo multiplo…«

Was Magnus Lindberg in »Tempus fugit« umtrieb, beschäftigt auch die österreichische Komponistin Olga Neuwirth. In ihren Werken spielen Erinnerungen, persönliche Rückbesinnungen auf die eigene (musikalische) Herkunft und deren Platz im Kosmos aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine zentrale Rolle.

Olga Neuwirth
Olga Neuwirth © Harald Hoffmannn

Neuwirths Musik nimmt die Hörer mit durch ein klanglich changierendes Labyrinth aus Allusionen und Illusionen. Jedes ihrer Werke ist ein »Betrachten und Bewundern der Welt aus verschiedenen Blickwinkeln« – und in ihrem 2006 uraufgeführten Trompetenkonzert »… miramondo multiplo …« hat sie genau diese Idee sogar im Titel festgehalten. Wie bei Lindberg führen fünf Sätze in unterschiedliche Seelenbezirke und zeichnen ein differenziertes Bild von der Welt mitsamt ihrer »Kugelgestalt der Zeit«.

»Die Trompete: Verlängerung des menschlichen Atems«

Auf die eigene Geschichte der Komponistin, die ursprünglich Jazztrompeterin werden wollte, verweist schon die Wahl des Soloinstruments, das als »Verlängerung des menschlichen Atems« (Neuwirth) in fünf »Arien« diesen Bildern ihr Leben einhaucht.

Mal ziehen – wie vor allem im vierten Satz – Erinnerungen an Musik von Händel vorbei und eröffnen Assoziationen von Geborgenheit und Geschichte. Dann wieder setzt die Trompete – wie in der »Aria della memoria« – zur Eröffnungsfanfare aus Mahlers Fünfter Sinfonie oder Jazz-Phrasen eines Miles Davis an und spiegelt so Neuwirths musikalische Sozialisation. Und mal – wie im dritten Satz – sind die stampfenden Rhythmen aus Strawinskys »Sacre du printemps« zu Besuch, dem Schlüsselwerk der Moderne schlechthin. Am Ende aber befreit sich die Trompete aus dem Orchester und steht, so Neuwirth, »allein im unendlichen Raum«. Als ob das Ganze noch einmal von Neuem beginnen könnte. Denn die Zeit steht niemals still.

Text: Julius Heile, Stand: 2.3.2021

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