Testfazit

Testnote

1,7

gut

„The Last Guardian“ weicht ab vom ganzen Spiele-Einheitsbrei und geht seinen ganz eigenen Weg. Während viele große Titel beliebig austauschbar und damit schnell vergessen sind, bleibt „The Last Guardian“ den Zockern ganz bestimmt lange im Gedächtnis – und das, obwohl das Spiel technisch nicht einwandfrei ist. Hier fallen die fummelige Steuerung und die eigenwillige Kamera besonders negativ auf. Dafür fegt die Handlung, das ganze Setting, die besondere Atmosphäre allen Ärger vom Tisch. Das glückt vor allem durch die clevere Interaktion mit dem authentisch wirkenden Fabelwesen Trico sowie durch die Verbundenheit, die der Spieler zu dem liebenswerten Wesen aufbaut. Hinzu kommt eine wunderschön erzählte Geschichte, die spannend, ergreifend und rührend ist. Zu guter Letzt macht „The Last Guardian“ mit einem schönen und würdigen Ende die Klappe zu. Hat sich die lange Wartezeit gelohnt? Ja, definitiv. Und zwar nicht nur für Fans der ähnlichen Vorgänger „ICO“ und „Shadow of the Colossus“ – auch Neulinge dürften ihre helle Freude an Fumito Uedas Ode an die Freundschaft haben.

Pro
  • Klasse Spielwelt
  • Fantastische Geschichte
  • Authentisches Fabelwesen
Kontra
  • Fummelige Steuerung
  • Eigenwillige Kamera
  • Teilweise Bildruckler
Sie sind ein kleiner Junge und wachen weit weg von zu Hause in einer Höhle auf. Merkwürdige Runentattoos zieren Ihren Körper und das Gesicht. Wo Sie sind? Keinen blassen Schimmer. Wie Sie dort hingekommen sind? Nicht die leiseste Ahnung. Aber Sie sind nicht allein: Direkt neben Ihnen liegt ein Trico, ein seltsames, Greif-ähnliches Fabelwesen, das mit seinem Federkleid an einen Riesenvogel erinnert. Seine Flügel sind kurz, vielleicht sogar gewaltsam gestutzt. Der Kopf könnte eine Mischung aus Hund und Katze sein – aber mit kleinen Hörnern. Es muffelt auch etwas streng aus dem Maul. Das Trico ist angekettet, Speere stecken tief in seinem Fleisch. Wer hat ihm das angetan? Das werden Sie noch früh genug erfahren …

Erste Hilfe in letzter Minute


Bei solchen Schmerzen ist das Trico natürlich gereizt, beim Versuch, sich ihm zu nähern, faucht und tritt es um sich wie ein Gaul. Sie wollen Ihrem gefiederten Höhlengenossen trotzdem irgendwie helfen. Zum Glück ist da die Stimme aus dem Off – es ist Ihr älteres Ich – die Ihnen den dezenten Hinweis gibt, dass das Trico mächtig Kohldampf hat. Ein bisschen Futter kann ja Wunder bewirken. In der dunklen Höhle blitzen ein paar leuchtende Fässer hervor: Essen. Die werfen sie dem Trico vor die Nase, es verputzt schmatzend die funkelnden Kalorienbomben. Und siehe da, das Fabelwesen beruhigt sich allmählich. Sie besteigen vorsichtig seinen Rücken, entfernen die schmerzhaften Speere, sprengen die Ketten und machen sich bereit, das Weite zu suchen. Jetzt fängt Ihr unvergessliches Abenteuer erst richtig an, aber wo geht’s lang?
The Last Guardian im Test: Eine Ode an die Freundschaft Die Spielwelt ist schön, aber auch voller Hindernisse und Gefahren.
Die Spielwelt ist schön, aber auch voller Hindernisse und Gefahren.
Foto: Sony

Spannende Welt mit toller Atmosphäre


Den richtigen Weg müssen Sie schon selber finden. „The Last Guardian“ serviert Ihnen keine Map, Missionsziele oder Wegweiser. Es gibt nur Sie, das Trico und eine mysteriöse Spielwelt, bei deren Gestaltung Entwickler genDesign sich sichtlich Mühe gegeben hat: In Ihrem Abenteuer durchschreiten Sie ein riesiges, malerisch gezeichnetes Burgruinen-Areal im Nebel, es geht über saftig-grüne Grasplateaus, durch Höhlen und Katakomben sowie über klapprige Gerüste und Felskanten, so hoch, dass Sie den festen Boden unter Ihnen nur erahnen können. Spannend: Wie groß diese Welt ist, die von jeglicher Zeit abgekoppelt zu sein scheint, erschließt sich erst im Spielverlauf. Mit jedem weiteren Raum, den Sie betreten, jedem Blick, den Sie von weit entfernten Türmen erhaschen, steigt die Neugier, wie es wohl weitergehen mag, und was das Schicksal für Sie und Ihren merkwürdigen Begleiter noch bereithält.
The Last Guardian
In „The Last Guardian“ ist Höhenangst fehl am Platz!
Foto: Sony

Schick, aber etwas aus der Mode


Der Look ist ästhetisch, der Story-Köder ist geschluckt. Aber: Bei der Grafik sollten Sie nicht jedes Pixel aufs Korn nehmen, zeitgemäß sieht anders aus. Gerade nach so einer langen Entwicklungszeit ist es schade, dass die tolle Spielumgebung nicht noch knackiger und schärfer auf dem Bildschirm erscheint – auch auf der leistungsstärkeren PlayStation 4 Pro sieht der Titel übrigens nicht unbedingt besser aus. An Grafikbomben wie „Uncharted 4“ oder „Rise of the Tomb Raider“ kommt das Spiel nicht heran. Und dabei ist die Bildwiederholrate in „The Last Guardian“ noch nicht mal konstant, denn ab und zu stören kleine Ruckler den Spielfluss. Wie gut, dass der Titel mehr zu bieten hat. Und zwar Dinge, die wichtiger sind als die Grafik – neben der tollen Atmosphäre etwa die vielen kreativen Rätseleinlagen.

The Last Guardian: The End
Wie geht’s hier nur weiter? Die Lösung liegt nicht immer auf der Hand.
Foto: Sony

Rätselknacker vor


Die Rätsel sind zwar meist nicht besonders schwierig, erfordern aber Geschick und Einfallsreichtum. Ein Beispiel: Dem beschriebenen Anfangsareal entkommen Sie erst, nachdem Sie den Spiegel in einem versteckten Raum gefunden haben. Dabei erleben Sie Ihr erstes Donnerwetter: Was Sie mit dem Spiegel anleuchten, sprengt das Trico mit einer Feuerblitz-Salve aus seinem buschigen Schwanz in die Luft. Wow! Mit ihrem Kampf-Trico machen Sie aus dem versperrten Tor im Handumdrehen Kleinholz und gelangen so aus der Höhle. Hurra, der Weg ist frei! Doch die Freude währt nicht lange.

The Last Guardian: The End
Wie ein braves Schoßhündchen ... doch manchmal versteht Trico nur Bahnhof.
Foto: Sony

Platz, fass, mach Männchen …, bitte


Denn Hindernisse und Barrieren gibt es in „The Last Guardian“ viele. Manchmal erreichen Sie Türöffner nur über stolprige Umwege oder nach einem Tauchgang. Innen wie außen nehmen Sie etwa Schleichpfade, zwängen sich durch enge Luftschächte in der Wand, suchen versteckte Katakomben, klettern an Ranken hoch, hangeln an Ketten entlang, vollführen waghalsige Sprünge – ein volles Kraxelprogramm, das Laune macht.

Und was Sie allein nicht schaffen, das schaffen Sie zusammen – mit Ihrem Trico. Nach einiger Zeit und Fässchen-Leckerlis fasst das Tier Vertrauen zu Ihnen und beginnt, Sie nachzuäffen sowie Kommandos zu befolgen. Wenn Sie etwa auf der Stelle springen, ahmt das Trico Sie nach und springt mit Ihnen auf seinem Rücken zu hohen Vorsprüngen oder über tiefe Abgründe. Wenn Sie auf der Stelle gehen und mit dem Finger in eine bestimmte Richtung deuten, macht es sich auf den Weg dorthin. Das Trico kann auf Befehl auch stampfen oder sich auf seine Hinterläufe stellen und an hohe Wände lehnen, damit Sie an ihm hochklettern können. Das alles ist sehr charmant, funktioniert aber in der Realität nicht ganz so einfach wie gewünscht. Das Trico ist bisweilen eigenwillig und tapst erst mal umher, bevor es einem Befehl folgt. Andere Male ist es launisch oder versteht nur Bahnhof. Es kommt vor, dass Sie Befehle öfter wiederholen müssen, bis sich Ihr schwerfälliger Kompagnon endlich in Bewegung setzt. So gestaltet sich so manche Wegfindung wie ein Ratespiel. Dann wissen Sie nicht, ob Sie an einer bestimmten Stelle nicht weiterkommen, weil das Trico gerade rumzickt und Ihren Befehl nicht befolgen will oder ob es dort wirklich nicht weitergeht. Klar, dass das Trico kein treudoofes Haustierchen ist, das Befehle ausführt wie ein Schäferhund. Doch etwas weniger Eigensinn würde dem Spielfluss gut tun und die Nerven des Spielers schonen.

The Last Guardian: The End
Die Klettereinlagen können nerven, besonders wenn der Junge klammert und nicht abspringen will.
Foto: Sony

Spring ab … oder fall halt runter!


Noch störrischer als das Trico ist nur die Steuerung des Jungen – das wohl größte Manko von „The Last Guardian“. Das bekommt der Zocker besonders auf dem Rücken des Tieres zu spüren. Sich ans Federkleid zu krallen ist noch relativ einfach, am Trico hochzuklettern grenzt an eine Everest-Besteigung. Oft dreht und wendet sich der Knirps auf dem Weg nach oben, Bewegungsvorgaben werden vom Spiel manchmal gar nicht oder falsch interpretiert. Wer erst mal auf dem Rücken hockt, kommt nicht so schnell wieder runter, denn der Dreikäsehoch hält sich krampfhaft fest, manchmal dreht er sich sogar lieber kopfüber, anstatt einfach abzuspringen. Die „Loslassen“-Taste funktioniert oft nur eingeschränkt. Wenn’s dann geklappt hat, landet der Junge auch mal auf der Nase statt auf den Füßen. Dieses Auf- und Abklettern müsste flüssiger vonstatten gehen. Auch das Springen in die gewünschte Richtung ist oft viel Fummelarbeit, wenn Sie gerade an einem Objekt hängen. Hier müssen Sie sich etwa an einer Kette hängend drehen und wenden, bis der Absprungwinkel zur gegenüberliegenden Kante stimmt – und selbst das ist kein Garant, dass der Sprung letztendlich auch gelingt.

The Last Guardian: The End
Besonders wenn es eng wird, arbeitet die Kamera oft gegen den Spieler.
Foto: Sony

Kameraheben für Muskelprotze


Bei solchen Manövern ist eine freie Kamera eigentlich hilfreich. Die gibt es zwar in „The Last Guardian“ – nur arbeitet sie oft gegen den Spieler, versucht permanent den besten Bildausschnitt einzustellen. Das zwingt Sie dann zu starken Gegenlenkbewegungen, was besonders nerven kann, wenn Sie gerade nach dem richtigen Weg Ausschau halten und dabei immer wieder das Objektiv neu justieren müssen. Auf engen Pfaden oder in kleineren Räumen (und da müssen Sie oft lang) dreht sich die Kamera außerdem manchmal abrupt, sodass Sie nur Schwarz sehen. Felsvorsprünge oder das Trico selbst versperren dann den Blick auf den kleinen Buben.

The Last Guardian: The End
Ein Herz und eine Seele ...
Foto: Sony

Ein Freund, ein guter Freund


Das alles wirft „The Last Guardian“ aber nicht um. Trotz seiner vielen Probleme ist es nämlich ein großartiges Spiel. Vor allem, weil es etwas bietet, was den meisten Spielen abgeht: ein Feuerwerk der Emotionen! Etwa bei der Bindung zum Trico, die Sie fix aufbauen – fast wie zu einem echten Haustier. Das Fabelwesen wirkt richtig authentisch, weil es verblüffend gut animiert ist. Mal wähnen Sie in seiner hungrigen Zutraulichkeit die Augen eines Hundes vor sich, mal erinnert sein gedankenverlorener Spieltrieb an ein Katzenjunges. Meistens möchten Sie ihn nach einem putzigen Bäuerchen einfach das Näschen kraulen. Besonders rührend ist es, wenn dem Trico etwas Schlimmes passiert, es etwa abstürzt oder plötzlich verschwindet. Jedes Mal machen Sie sich Sorgen – wie ein echtes Herrchen. Wenn Ihr putziger Gefährte leidet, leiden Sie automatisch mit. Das dürfte selbst Leute, die eigentlich keine Tierfreunde sind, nicht kaltlassen – unglaublich, dass so etwas in einem Spiel möglich ist.

Das i-Tüpfelchen ist der Soundtrack, der die Emotionen des Spielers zu jeder Zeit perfekt unterstreicht: Die Musik, eingespielt vom London Symphony Orchestra, setzt nach teilweise längeren, stillen Abschnitten absolut passend zur stilisierten Szenerie ein, untermalt etwa einen dramatischen Kampf oder sorgt für Aufatmen bei einem sich öffnenden Areal – Gänsehaut garantiert. Und dann ist da noch die einzigartige Geschichte und Erzählweise. Hier und da hören Sie eine tiefe Stimme aus dem Off, manchmal sehen Sie eine Zwischensequenz, den Rest erleben Sie direkt im Spiel während Ihres Abenteuers. Die Neugier, wie das Märchen endet, wächst stetig. Einige wichtige Geheimnisse bleiben bis zum Ende gewahrt. Daher grübeln Sie während des Spiels, wie die Geschichte enden könnte. Mit oder ohne Trico, tot oder lebendig, in Freiheit oder Gefangenschaft? War alles nur ein Traum? Lassen Sie sich überraschen.

Erscheinungstermin „The Last Guardian“: 7. Dezember 2016 für PS4
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